Pingelig


Meine Freundin Geli ist klasse. Immer da, wenn man sie braucht, immer hilfsbereit und freundlich. Sie kann Witze erzählen, dass man Atemnot vor Lachen kriegt. Und sie ist so schön unkompliziert. Eigentlich...

Denn eine Eigenschaft hat Geli, die ich nicht so ganz nachvollziehen kann, weil sie mir völlig abgeht. Geli ist pingelig.

Bei ihr zu Hause ist es immer tipptopp aufgeräumt und geradezu antiseptisch sauber. Sie versäumt nie Termine, verbummelt ihre Sachen nicht und kommt grundsätzlich mit ihrer Kohle aus. Mit einem Wort: Ein Wesen von einem anderen Stern :-).

Glücklicherweise überträgt sie ihren Ordnungswahn und Sauberkeitsfimmel nicht auf andere. Ungerührt sitzt sie in meinem chaotischen Wohnzimmer, sieht durch die seit Monaten nicht geputzen Fensterscheiben nach draußen und fragt höchstens freundlich: "Sag mal Caro, haben wir Nebel, oder hast du lange nicht zum Ledertuch gegriffen?"

Dabei lacht sie so herzerfrischend, dass ich genau weiß: Das meint sie total nett...

Geli sieht immer aus, wie aus dem Ei gepellt. Sogar ihre Freizeitklamotten sitzen wie angegossen, passen farblich zueinander und sind grundsätzlich frisch gewaschen und gebügelt. Meine Freundin ist der einzige Mensch den ich kenne, der sogar Tennissocken plättet. Als ich das mal rauskriegte und fragte, was um Himmels Willen der Nutzen von gebügelten Socken sei, bekam ich zur Antwort: "Naja, am Fuß egal, aber es sieht eben ordentlicher im Schrank aus!"

Mit ebenjener Geli war ich also zu einem längeren Einkaufsbummel verabredet.
Normalerweise kauf ich lieber alleine Klamotten ein, ich bin da eher untypisch für ein Mädel.
Wenn ich etwas brauche, gehe ich in einen bestimmten Laden, der Sachen in meiner Geschmacksrichtung führt, probiere (nur der Größe halber) ein zwei Teile an, bezahle und gehe wieder. Wahrscheinlich bin ich eigentlich ein Kerl :-). Geli braucht Stunden und mindestens fünf Läden für ein weißes T-Shirt...
Aber ich hatte es ihr versprochen und folglich trafen wir uns morgens bei mir, frühstückten und zogen dann gegen halb zehn Uhr los.

Es wurde ein wahrer Marathon. Geli hatte vor, ihre gesamte Wintergarderobe zu erneuern und ich trabte ergeben neben ihr her.
Erst zu H&M, da war ihr die Qualität zu mau. Dann zu Sophia Szagun. Da stimmte die Qualität, aber die Preise waren zu hoch. Vier Kaufhäuser, zwei Boutiquen und ein Outlet Store später war es soweit: Geli hatte die Grundausstattung zusammen. Inzwischen war es halb drei und ich bekam Hunger.

"Lass uns mal was essen gehen" schlug ich daher vor. Geli, schwer beladen aber guten Mutes, meinte "Prima Idee! Ich kann kaum noch laufen. Außerdem muss ich schon seit ner Stunde!" Das war wieder mal typisch. Erst muss sie alles erledigt haben, bevor sie ihren Bedürfnissen nachgeht. Ich seufzte und wir betraten das nächstgelegene Nordsee-Restaurant. Während Geli noch in aller Ruhe ihre unzähligen Tüten auf der Bank verstaute, flitzte ich schnell zum Klo - ich musste nämlich auch schon ziemlich. Die Toilette war nicht gerade in allerbestem Zustand. Sonnabends ist eben halb Hamburg in der Innenstadt und offenbar waren schon Heerscharen von Frauen drauf gewesen. Und nicht alle hatten den Ehrgeiz gehabt, den Ort so zu hinterlassen, wie sie ihn vorgefunden hatten. Mir war das herzlich wurscht. Ich musste, also hockte ich mich über die Schüssel und ließ es laufen. Danach beeilte ich mich mit dem Händewaschen - immerhin hatte Geli ja gesagt, dass sie schon länger Druck hatte.

Sie schien auch sichtlich froh, als ich zurückkehrte. "Caro, pass mal bitte auf meine Sachen auf, ich muss mal ganz schnell wohin!" Sprach's und verschwand eilig Richtung "Damen".

Ich bestellte inzwischen das Tagesmenue und ein Kännchen Kaffee.

Kaum war die Kellnerin verschwunden, tauchte auch Geli wieder auf. "Das ging aber schnell" wunderte ich mich. Meine Freundin aber setzte sich stumm auf die Bank und starrte angespannt auf die gegenüberliegende Wand. Böses ahnend fragte ich: "Na, erleichtert?"
"Da geh ich nicht" stieß sie hervor. "Das ist mir zu schmuddelig da!"
"Geli, so sieht es aber jetzt überall aus." antwortete ich. "Außerdem hab ich gerade bestellt. Das dauert noch eine Weile. Nu reiß dich mal zusammen. Mach doch die Augen zu beim Pinkeln. Musst dich ja nicht hinsetzen" empfahl ich.

Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre braunen Locken flogen. "Da mag ich noch nicht mal die Hose runterziehen, so versifft ist es. Ich warte, bis du fertig bist und dann gehen wir in die Rathauspassage. Da gibt es Klofrauen und da ist es einigermaßen sauber!"

Bestellen mochte sie nichts. Bis mein Essen kam, dauerte es eine ganze Weile. Hochbetrieb eben. Geli saß auf den vorderen 10cm der Bank, die Schenkel fest zusammengekniffen und die Hände links und rechts davon in das Bankpolster gekrallt. Ich ärgerte mich. Wie sollte ich denn nun entspannt essen?
In meinem Groll beschloss ich, es auf die Spitze zu treiben. Wollen doch mal sehen, ob Geli nicht dazu zu kriegen war, doch noch auf dieses Klo zu gehen!

Als mein Scampi-Teller kam, ließ ich mir sehr viel Zeit mit der Nahrungsaufnahme. Ich bestellte noch eine Apfelschorle und begann, Geli von meinem Urlaub in Tennessee zu erzählen. Besonders meinen Besuch der Ruby Falls, einem unterirdischen Wasserfall in einer Tropfsteinhöhle, schmückte ich genussvoll aus. Als Geli verzweifelt die Beine übereinanderschlug, drängte ich sie, doch bitte zur Toilette zu gehen. Sie aber weigerte sich. "Caro! Ich KANN da nicht! Wann bist du denn fertig? Ich muss doch so dringend....!!" Sie konnte keinen Moment mehr stillsitzen. Aber ich sah ein, dass mein Plan fehlgeschlagen war. Ich zahlte und wir standen auf.

Hektisch raffte sie ihre Einkäufe zusammen, dabei stieg sie ständig von einem Bein auf das andere. Mir war völlig schleierhaft, wie sie es bis zur Passage schaffen wollte. Das waren noch etwa 800 Meter durch schaufensterbummelnde Menschenmassen hindurch. Außerdem ging es da noch eine lange Treppe runter und dann noch 50 Meter.. Ich begann zu bereuen, dass ich das Essen so verzögert hatte. Bußfertig half ich Geli mit ihren Tüten.

Wir schlängelten uns durch die Tische raus auf die Straße. Es war, wie ich befürchtet hatte, brechend voll. Geli trippelte vor mir her, sie hatte so einen Druck auf der Blase, dass sie keine großen Schritte mehr machen konnte. Nach 100 Metern blieb sie stehen und kniff stöhnend die Beine zusammen. "Das schaffst du schon!" bestärkte ich sie hoffnungsvoll. Sie nickte stumm und wir bahnten uns mühsam unseren Weg durch die Kauflustigen.

Als wir noch etwa 200 Meter von der Passage entfernt waren, bog Geli plötzlich in einen kleinen Torweg ein. Sie ließ die Tüten fallen, kreuzte die Beine und fuhr sich mit der Hand zwischen die Schenkel. "Caro, ich kann nicht mehr!" keuchte sie. Hilflos stand ich vor ihr. Was tun? Sie war in allerhöchster Not. "Zieh die Hose runter und hock dich hin, ich steh ja vor dir, das sieht schon keiner" log ich begütigend. Zwar war außer uns niemand in der Einfahrt, aber in drei Metern Entfernung rauschten ganze Völkerscharen die Mönckebergstrasse entlang. "Das geht doch nicht!" winselte sie. Geli wippte jetzt unablässig. "Oh Gott, ich mach mir in die Hose!!" Mit fliegenden Fingern versuchte sie endlich, den Knopf ihrer Jeans zu öffnen. Mit einer Hand natürlich, weil sie sich nicht traute, die andere von ihrem Schritt zu entfernen.

Gelis Vorliebe für knallenge Klamotten rächte sie. Sie bekam den Knopf nicht einhändig auf. Ich wollte ihr helfen, aber sie konnte einfach nicht mehr warten. Verzweifelt nahm sie die andere Hand zu Hilfe.... Im gleichen Moment, als der Hosenbund offen war, hörte ich sie ganz hoch aufjammern: "Neeeiiiinnn.........!!!" und in ihrem Schritt glitzerte es auf und färbte sich dann schlagartig dunkel. Als würde es noch etwas helfen, presste sie immer noch ihre gekreuzten Beine zusammen. Es lief ihr die Schenkel hinab, in breiten Bahnen und plätscherte schließlich auf den Asphalt. Fasziniert betrachtete ich ihr Gesicht während sie pisste.

In den ersten Sekunden war es noch krampfhaft verzerrt von der Anstrengung, anzuhalten. Dann aber verwandelte es sich in einen Ausdruck unendlicher Erleichterung. Geli legte den Kopf in den Nacken und stöhnte mit geschlossenen Augen. Hätte man nur ihr Gesicht gesehen, man wäre auf den Gedanken gekommen, sie würde gerade beschlafen. Sie schien nichts mehr um sie herum wahrzunehmen. Auch als der Strom endlich versiegte, blieb sie so stehen. Sie öffnete die Schenkel und lehnte entspannt an der Mauer. Der See zu ihren Füßen hatte Ausmaße, die mir einigen Respekt abnötigten. An einer Ecke hatte sich ein Rinnsal gebildet, das in Richtung Straße lief. Einzelne Passanten sahen uns im Vorbeigehen interessiert zu. Manche davon blieben sogar einen Moment stehen.

Wir mussten da weg.
Aus einer Tüte hatte ich eine Windjacke gezogen, die ich meiner Freundin um die Hüften legte. Die Ärmel verknotete ich vor ihrem Bauch. Sie ließ alles mit sich geschehen, wie eine lebensgroße Anziehpuppe.
"Geli, komm!" befahl ich schließlich.

Gehorsam folgte sie mir. Ich hatte alle ihre Einkäufe zusammengerafft und schleppte....
Warum eigentlich? Wenn ich alles dort am Ort der "Katastrophe" gelassen hätte - es wäre ihr nicht aufgefallen. Aber Freundschaft ist Freundschaft. An der Straße winkte ich einem Taxi. Wir fuhren zu mir und ich zahlte schuldbewusst 30 Euro.

In meiner Wohnung kam sie langsam wieder zu sich. Wortlos ging sie duschen. Viel später erst, als sie frischgewaschen und neu eingekleidet am Tisch saß, begann sie, zu reden. "Caro, so doll musste ich in meinem ganzen Leben noch nicht. Und das alles nur wegen meiner Pingeligkeit. Wenn ich im Restaurant auf Klo gewesen wäre... Aber nein! Ich musste mich ja anstellen! Das hab ich jetzt davon!" Sie lächelte leicht.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. "Apropos was davon haben...." begann ich vorsichtig.
Sie schnitt mir kurzerhand das Wort ab. "Ich weiß, was du sagen willst. Ja, es war schon ein saugeiles Gefühl, als es endlich lief. Ich hab zuletzt mit 3 Jahren in die Hose gepinkelt und hatte völlig vergessen, was das für ein Gefühl ist. Es ist fast, als wäre man wieder ein Kind, ganz geborgen und ganz eins mit der Welt.." Staunend sah ich sie an.

Es wurde noch ein sehr langer Abend :-)


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