Ein Hamburger Garten - Über die Kraft der Erinnerung


Der Garten, in dem ich aufwuchs, war meine Rettung, meine Zuflucht. Hierhin floh ich, wenn es im Haus nicht mehr auszuhalten war, wenn meine Eltern wieder mal gegeneinander rasten, wenn wie so oft alles meine Schuld war, wenn meine Position in der Rangfolge der Familie sich deutlich unter der des Hofhundes befand.

Der Garten - ja. "Garten" konnte man das eigentlich nicht nennen. Es handelte sich um ein Gelände von ca. 20.000qm, also 2 Hektar. Wir hatten Erdbeer- und Kartoffelfelder da. Grünkohl, Stangenbohnen, Erbsen, Lauch, Karotten. Es gab eine Streuobstwiese, Schweine- und Schafställe, natürlich Schweine und Schafe :-). Wir hatten einen Hühnerstall, freilaufende Gänse, Fasane, Truthähne und Igel, einen kleinen wilden Wald voller Beerensträucher. Mitten drin war ein verwunschener Pavillon, ein Oktaeder aus rostbraun gestrichenen Holzbrettern. Durch das Ganze floss die Mühlenau, ein Bach.

Es gab 1001 Verstecke dort: bei den Kaninchenställen im Verschlag; auf dem Heuboden des Schafstalles; in einem hohlen Baumstamm. Ich kannte sie alle.
Meine Eltern waren froh, wenn ich ihnen nicht im Weg stand, also verzog ich mich nach draußen. Das Läuten der Kirchenglocken um 18 Uhr war mein Signal. Dann musste ich wieder zurück. Alle andere Zeit blieb mir überlassen. Ich konnte machen, was ich wollte, es fragte mich niemand.

Und Blumen gab es!
Gepflanzte, Verwilderte, Unkräuter, die so herrlich blühten, wie die schönsten Orchideen. Schon früh kam ich dahinter, dass meine Mutter deutlich milder gestimmt war, wenn ich ihr abends einen Strauß mitbrachte. Ich war es gewohnt, genau hinzusehen, was ich pflückte - achtete schon früh auf passende Farben und Größen. Von meinem Großvater erfuhr ich die Namen der Pflanzen. So kam es, dass ich oft einen prallrunden Strauß ablieferte und meiner Mutter erklären konnte, was sich darin befand. "Das orange sind Tagetes, das helldottergelbe Ranunkeln. Das blaue sind Wicken und Vergissmeinicht, wilde Veilchen sind hier an der Seite. Das ganz hellgelbe sind Butterblumen und Löwenzahn mit Goldrute. Das rote ist Mohn. Das vorne ist Dahlie und das weiße Jasmin. Die tollen kleinen Sterne sind Kartoffelblüten..." Mama schüttelte ärgerlich den Kopf. "Unkraut, Gemüse und Zierpflanzen! Alles zusammen! Na gut..." Dann holte sie eine Vase und mein Strauß bekam einen Königsplatz auf dem Wohnzimmertisch. Dies waren glückliche Mom
ente.

Es gab auch andere Momente, und die waren eindeutig in der Überzahl. Wenn im Haus "dicke Luft" war, machte ich mich vorsichtshalber unsichtbar. Auf meinem Zimmer war ich nicht sicher. Wenn ihre Eheschlacht den Höhepunkt erreicht hatte, flog meine Tür auf und einer meiner Eltern stand im Zimmer, um mich zum Kronzeugen der jeweiligen Anklage zu machen. "Caro! Sag DU Deinem Vater jetzt, dass ich den ganzen Tag über den Büchern vom Verein saß! Ohne Pause!" So oder ähnlich lief das ab. Ich konnte machen, was ich wollte, ich verlor immer. Klar war ich deshalb ein äußerst gesundes Kind: ich war die meiste Zeit an der frischen Luft und ernährte mich von Beeren und Feldfrüchten. Wenn ich Durst hatte, schöpfte ich Wasser aus der Regentonne. Und lieber knusperte ich sandige Möhren am Feldrand, als Sahnetorte inkl. Terrorstimmung am Kaffeetisch. Alles hat sein Gutes, alles.

Meine Großeltern lebten im Nebenhaus, mein Opa verbrachte viel Zeit mit Gemüseanbau. Zu ihm lief ich, wenn ich Gesellschaft wollte. Das war nicht oft. Opa, ein wortkarger, herzlicher Mann, verstand mich besser, als ich ahnte. Er ließ mich in Frieden. Nur manchmal gab er mir einen Rat. "Caro, es ist in Ordnung, wenn du nicht wegen jeder Kleinigkeit ins Haus gehst. Wenn du mal musst, dann piescher ruhig in die Sträucher. Aber lass das niemanden sehen und sorg dafür, dass man es auch hinterher nicht merkt." Mehr musste er nicht sagen. Ich verzog mich im Notfall also unter eine der Brombeerhecken, schnappte mir ein paar Blätter (nein, KEINE Brennnesseln) und trocknete mich danach damit ab, so gut es ging.

Dann kam ein Sommertag, den ich nicht vergessen werde, und wenn ich 150 Jahre alt werden sollte.
Es war heiß. Also, nicht warm und sonnig, sondern glühend, glosend heiß. Seit einer Woche brütete eine Jahrhunderthitze über Norddeutschland. Jeweils in der Morgen- und Abenddämmerung legten Opa und Papa komplizierte Schlauchsysteme durchs Gelände, um die Felder zu bewässern. Es war kaum jemand draußen. Die Menschen verzogen sich in ihre Wohnungen und Häuser und fächerten sich frische Luft zu. Die Klimaanlagendichte im Norden ist eher gering...

Es waren Sommerferien. Gartenzeit. Natürlich war ich draußen. Die Sonne kribbelte auf meinen bloßen Armen. Ich stand auf der der Wiese zwischen den Obstbäumen und sah auf die Gemüsefelder hinaus. Die Hitze waberte über den Pflanzen. Der Weg zwischen den Beeten erschien hellweiß - so ausgetrocknet war die Erde. Ich atmete die staubtrockene Luft ein. Sie trug den Duft vom Kräuterbeet zu mir. Minze, Thymian, ich glaubte sogar den Rosmarin zu riechen. Ich hatte Durst. Eher aus Gewohnheit als mit Hoffnung ging ich zur Regentonne. Gestern war sie fast leer gewesen. Aber oh Wunder! Opa hatte sie am Morgen mit frischem Wasser aufgefüllt, damit Oma die Rosen gießen konnte. Begeistert tauchte ich mein ganzes Gesicht ein. Uuuuh, war das kalt! Genau das Richtige an so einem Tag. Ich trank und trank und trank, bis mir der Bauch ganz weh tat. Dann schüttelte ich meine nassen Haare und ging Kaninchen füttern. Dazu musste ich nur einen Arm voll Löwenzahn, den es reichlich gab, zusammenrupfen. Die Kaninchen waren verfressene
, freundliche Tiere. Eine ganze Weile blieb ich bei den Ställen und freute mich an meiner plötzlichen Beliebtheit bei den Langohren. Blatt für Blatt wanderte durch den Maschendraht und wurde eifrig mümmelnd verputzt.

Es war bestimmt noch die Häfte übrig, als ich es spürte. Ich musste pinkeln. Kein Wunder nach der Wasserorgie von vorhin. Unbehaglich machte ich weiter mit Füttern, wollte danach fix quer über das Gelände in den Wald zu den Brombeeren, dahin, wo mich niemand sehen konnte. Bald sah ich ein, dass es nicht zu schaffen war, wenn ich so weitermachte. Der Drang wurde minutlich stärker, ich konnte nicht mehr stillstehen und begann, von einem Bein aufs andere zu treten. Schließlich warf ich den Rest des Löwenzahns auf den Boden und wetzte los, Richtung Wäldchen. Ich war so in Eile, dass ich nicht bemerkte, wie es sich inzwischen zugezogen hatte. Die gleißende Helle war verschwunden. Bedrohlich, fast dämmrig dunkel war es geworden. Windböen fuhren durch die Baumkronen, es rauschte unheilverkündend. Schnell, schnell, ich nahm die Abkürzung durch die Stachelbeeren, schrammte mir die Beine auf, es war mir egal. Ich musste so dermaßen dringend, dass ich nichts anderes mehr denken konnte: "Ich mach mir gleich in die Hose!
Oooh..."

Zu den Brombeeren waren es noch etwa 300 Meter, als es passierte. Ein sonnenheller Blitz tauchte die Welt in grelles Weiß, unmittelbar dahinter krachte es kurz und SO laut, dass alle anderen Empfindungen außer purem Entsetzen aus mir wichen. Ich stand starr vor Angst. Das nächste, was ich bemerkte war, wie es mir warm an den Schenkeln hinablief. Ich war so geschockt, dass ich noch nicht mal die Beine spreizte. Es lief und lief, wie von selbst. Ich machte keinen Versuch, den Strom aufzuhalten. Dicke kalte Tropfen klatschten auf meine nackten Schultern. Es hatte zu regnen begonnen. Während ich fassungslos dastand, wie ein Zaunpfahl, während ich mir komplett willenlos in die Hose strullte, begann der Regen sich zu etwas Monsunartigem zu entwickeln. Alles um mich herum rauschte, Tropfen zerplatzen auf Blättern, Rinnsale liefen Baumstämme herab, der Waldboden sog sich voll.

Der Regen war eiskalt. Ich atmete heftig. Es blitzte und donnerte in regelmäßigen Abständen, ich zitterte vor Kälte, Angst und Scham.
Wie sollte ich das meiner Mutter erklären? Das würde Dresche setzen... Aber Moment mal! Ich musste es ihr ja nicht sagen, war ja eh nass wie ein Fisch! Sie würde bestimmt nichts merken. So langsam beruhigte ich mich. Das Gewitter verebbte. Nur der Regen hörte nicht auf. Mein Mut kehrte zurück. Ich begann zu lächeln. Obwohl ich schon eine Weile nicht mehr pisste, kam mir ein Gedanke. Ich wartete etwas und ließ es jetzt ganz bewusst in die Hose gehen. Der warme Schwall fühlte sich herrlich an. Ich tat etwas Ungehöriges, etwas komplett total furchtbar Verbotenes und würde damit davonkommen!

"Caroooo!!!! Caroliiiiine!!!" rief es aus der Ferne. Huch? Man suchte mich? War ich wohl doch kein Niemand? Ich lief Richtung Haus. Meine Mutter kam mir völlig aufgelöst entgegengerannt: "Wo warst du denn? Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Ach Gott, Kind, du bist ja klitschnass! Komm schnell rein, du nimmst erstmal ein heißes Bad!"

Es war einer meiner besseren Tage.

Epilog:

Es gibt im Forum immer mal wieder die Frage, wie aurumianische Neigungen entstehen. Jeder von uns hat seine eigene Geschichte dazu.
Diese hier ist meine ganz persönliche. Der sexuelle Aspekt kam ein Jahr später dazu (siehe "Der Autozug", eine meiner ersten Stories).
Sicher hat das Zusammenspiel von strenger Erziehung, Kontrolle/Kontrollverlust, Übertretung von Normen und Geboten eine sehr sexuelle Komponente. Wir alle haben Phantasien - Dinge zu tun, die außerhalb der Norm liegen. Darin liegt viel Lust.

Den Garten meiner Eltern gibt es schon lange nicht mehr. Inzwischen ist ein komplettes Neubaugebiet auf dem Gelände entstanden.
Wie war das noch: "Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man uns nicht vertreiben kann"? Ja. So ist es.

Jetzt gerade sitze ich in meinem Garten. Ich schaue auf die Tomaten, den Basilikum, den Thymian und die Minze, die ich gepflanzt habe. Es ist sonnig.
Im Beet sind die Margueriten, Dahlien, die Veilchen, Petunien und der Rhododendron, die ich gestern in die Erde brachte.
Mein rechter Daumen ist mit Heftpflaster umwickelt. Aufgescheuerte Blase vom Umgraben.
Ich bin glücklich.

Apropos Blase, da sollte ich doch gleich mal... oder sollte ich lieber etwas Ungehöriges, etwas komplett total furchtbar Verbotenes tun und damit davonkommen?

Klar!


:-)




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