Somnambul


Seit Tagen hatte er sich vorgenommen, endlich mal genug zu schlafen. Aber es ist, wie es ist: die Tage waren lang - abends kam er nicht ins Bett - morgens nur mit äußerster Beherrschung raus.
Chronisch müde, literweise starken Kaffee, ab und zu Effortil, Coffeinum, selten mal ne Cappi - er schaffte es gerade so eben. Sein Job war nicht von schlechten Eltern. Solange er auf Arbeit war, ging es, aber er spürte die sackschwere Müdigkeit, wenn er nach Hause kam. Doch es war ja immer was zu tun - und wenn er alle Pflichten erledigt hatte, war da der Computer.

Seltsam, er sah auf die Uhr unten rechts, schon Mitternacht - aber auf einmal war er nicht mehr müde. Also, schon - aber nicht genug, um zu schlafen. Es gab SOVIEL Interessantes im Netz, soviel, was er noch erledigen musste. Die Mails, die Foren... sein Lieblingschat.

So folgten seine Nächte einem bestimmten Ritual:

Er setzte sich erst vor den Computer, wenn er vorher genügend zu trinken und etwas zum Knabbern auf den Tisch gestellt hatte. Dann blieb er aber auch eisern sitzen, weil er ja wusste, dass er eigentlich ins Bett gehört hätte. So war die Vereinbarung, die er mit seinem Innern getroffen hatte, klar: er würde nur GANZ KURZ ins Netz gehen - und die Länge von "ganz kurz" wäre definiert durch die Zeit, die er ununterbrochen sitzen blieb. Wär er aufgestanden, um beispielsweise etwas zu Essen zu holen oder zur Toilette zu gehen, dann wäre ja offensichtlich, dass er schon länger als nötig vor dem Computer saß. Wenn er ehrlich zu sich wäre, dann müsste er zugeben, dass diese Form des Selbstbetruges äußerst infantile, unvernünftige Züge trug, genau genommen komplett bescheuert war. Sein Unterbewusstsein spielte ihm aber genau diesen Streich immer wieder, weil sein Bewusstsein nicht in der Lage war, sich zwischen Vernunft und Lust zu entscheiden.

Heute abend war es wieder soweit. Er saß seit zwei geschlagenen Stunden vor dem Netz, trank ab und zu etwas, knusperte Pistazien und surfte durch seine präferierten Räume. In den meisten Foren war nichts los. Am Ende seiner virtuellen Expedition klickte er seinen Lieblingchat an.

Erstaunlich wenige Chatter da, um diese Zeit. Es war kurz nach Mitternacht. Hummel, Katsche und Sinola waren drin. Die ersten beiden kannte er. Männer wie er, alleine lebend und nachts auf der virtuellen Pirsch nach freundlicher Unterhaltung - wenn es ging, mit Frauen. Sinola hatte er noch nie gesehen. Nach der üblichen kurzen Begrüßung sprach er sie an: "Na Sinola? M oder W?"
Gut, es gab originellere Sprüche, aber er war müde, abgekämpft und eigentlich sollte er seit Stunden schon schlafen.

"W natürlich! *g*. Wonach hört sich der Name denn an?" gab Sinola zurück.

Er war viel zu lang und viel zu oft in Chaträumen unterwegs, um das so einfach glauben zu können. Je wohlklingender und exotischer der Name, desto sicherer war es normalerweise, dass sich irgendein Horst aus Blaubeuren dahinter verbarg.

"Ach was" schrieb er deshalb. "Svenja-Marilyn und Marissa waren auch Kerle. Haben die meisten hier nur etwas spät bemerkt. Gib mir einen Grund, Dir zu glauben!"

Das war unfair, aber er war mürbe. Sollte Sinola doch mal versuchen, ihre Identität zu beweisen.
Katsche und Hummel sprangen Sinola bei. "Glaub ihr doch einfach! Immer diese penetranten Verdächtigungen! So vergraulen wir ganz bestimmt alle Frauen, die sich hierher verirren!" schnappte Hummel. Und Katsche ergänzte: "Richtig. Wir unterhalten uns nämlich schon seit einer Stunde mit Sinola und ich halte sie für echt."
"Gut. Tun wir so, als wäre Sinola echt" provozierte er weiter. Katsche und Hummel versuchten, weiter locker mit Sinola zu plauschen, aber er ging immer wieder stichelnd dazwischen. Dann kam Henry in den Chat und fragte sofort "Oh, wen haben wir denn da? Jemand Neues?" Bevor Sinola antworten konnte, ging er dazwischen: "Henry, alter Knabe! Darf ich vorstellen: Sanella die Backfeine. Schmiert und ölt seit einer Stunde den Chat..."
Henry war amüsiert: "Mann, DU schleppst heute aber einen gewaltigen Frust mit Dir rum. Lass sie doch mal selber was sagen!"
Und das tat Sinola dann auch: "So. Nun reicht es mir. Ihr kennt Euch alle, was? Na, dann kannst Du doch mal Deine Telefonnummer rausgeben. Ich ruf Dich an, dann weißt Du es, okay?"

Er war baff.
Seit einer halben Stunde war er unruhig und fahrig, weil er eigentlich nötig pissen musste. Vielleicht waren seine Beiträge deshalb so kurz angebunden und aggressiv gewesen. Er hatte vorgehabt, ein bisschen rumzuprollen und Sinola wegzuekeln und dann nach erfolgreicher Tat siegreich den Chat zu verlassen, um hurtigst zum Klo und dann ins Bett zu gehen.
Das war jetzt natürlich nicht mehr drin, wenn er nicht das Gesicht verlieren wollte.
Es galt, die Sache möglichst abzukürzen, immerhin klappte er schon rhythmisch die Schenkel auf und zu. Er tippte seine Telefonnummer.
"OKAY! Geht los. Wenn die Nummer richtig ist, klingelt es gleich bei Dir!" kündigte Sinola an.

Hoffentlich wäre das bald. Er hatte das Telefon auf dem Schreibtisch stehen, an dem er saß. Fast sehnsüchtig starrte er darauf, während er sich mit einer Hand in den Schritt griff. Nach gefühlten zehn Minuten läutete es endlich. "Sinola hier..." schnurrte es. Warm, erotisch, sanft und doch kraftvoll - und ganz eindeutig weiblich - so klang sie.
Er schämte sich ein wenig für seine Ungläubigkeit. "Tut mir Leid, Sinola. Wir sind nur schon so oft verarscht worden. Na, dann ist das ja geklärt. Back to Chat?" Er wollte nur noch auflegen, "kurz afk" ins Textfeld hacken und pinkeln pinkeln pinkeln.

"So einfach kommst Du mir nicht davon." gurrte sie. "Du hast mich die ganze Zeit angeschossen, nun erklär mir mal bitte, warum. Habt Ihr denn öfter solche Fakes bei Euch, dass gleich jede Neue unter Generalverdacht fällt?"
"Ja, haben wir" gab er kurz zurück. "Aber nun ist es ja klar. Sorry für das Misstrauen. Ab sofort werd ich Dir glauben und gut." Er hoffte inständig, dass sie sich damit zufrieden geben würde. Weit gefehlt. "Warum bist Du denn so kurz angebunden? Du hast ne nette Stimme. Lass uns doch noch ein wenig reden..." Das hatte ihm gerade noch gefehlt. "Sinola, sorry, aber das geht gerade schlecht. Kannst Du nicht in fünf Minuten nochmal anrufen?" Er klang verzweifelt. Sicher wollte er gern mit ihr reden. Aber er musste doch so und inzwischen meinte er fast zu spüren, wie sich von innen der zu erwartende Strahl durch sein Rohr nach vorn arbeitete. Er drückte mit aller Kraft dagegen, aber es war nur noch eine Frage von ein, zwei Minuten, bevor es geschehen musste.

"Ich werde Dich ganz bestimmt nicht in fünf Minuten wieder anrufen. Entweder Du bleibst jetzt dran oder das war es. Such es Dir aus." Er schnappte nach Luft. Bevor er antworten konnte, meinte sie gelassen: "Während Du noch überlegst, geh ich mal kurz pissen. Ich nehm das Telefon mit, wenn es Dir nichts ausmacht."
Er hörte, wie sie aufstand und über einen leicht knarrenden Holzfußboden ging. Eine Tür wurde geöffnet, etwas klapperte und raschelte, und dann erklang ein lautes Zischen, welches in ein fröhliches Plätschern überging. Er war unfähig, sich zu rühren. Hilflos musste er erleben, wie seine Beherrschung schwand. Machtvoll und absolut unaufhaltsam drang es aus ihm heraus, heiß, nass und strömend ergoss es sich in seine Hose. "OOOoohhhh...." stöhnte er. Sein ganzer Schoß war durchnässt, die Beine seiner hellen Jeans wurden dunkel, erst die Innenseiten der Oberschenkel, dann lief es weiter nach unten. Und immer noch pisste er.
"Haaaallooooo!!!" Sie rief ins Telefon, wahrscheinlich schon eine Weile. "Jahaaaa?" japste er. "Was ist denn mit DIR los? Macht Dich das SO an, wenn ne Frau pinkelt?" fragte Sinola neugierig. Er fand die Sprache wieder. "Ja schon" antwortete er. Um nichts in der Welt würde er zugeben, dass er einfach nicht mehr anhalten konnte, als sie losgelegt hatte. Sie kicherte. "Du? Kann es sein, dass DU genauso pinkeln musstest, wie ich?" Dieser kleine Teufel! Sie hatte ihn durchschaut. Das war zuviel. Er beendete das Gespräch ohne ein weiteres Wort und zog das Telefonkabel raus. Keine Erklärungen mehr. Er musste erst zu Atem kommen, nachdenken...

°°°

Verwirrt hob er den Kopf. Er war eingenickt. Vor dem Computer. Der Bildschirmschoner war aktiviert. Rasch ergriff er die Maus. OHA! Schon fast vier Uhr. Drei Stunden hatte er geschlafen. Was war das vorhin bloß gewesen? Der Chat war leer. Er war ganz allein. Die anderen hatten sich wohl schon lange verabschiedet.
Hatte er geträumt? Er sah an sich hinunter. Zumindest der Teil mit dem Einnässen war äußerst real gewesen. Kalt lag der Stoff seiner Hose an seinem Körper. Kalt und nass.
Er stand auf, zog die Hose aus und wischte mit ihr die Pfütze auf dem Linoleumboden auf. In seinem Kopf war Watte. Wie an Fäden gezogen, ging er ins Schlafzimmer und legte sich so wie er war ins Bett. Nachdenken würde er morgen. Darüber, wie er sie wieder ans Telefon bekäme, zum Beispiel. Und über dieses Kribbeln, dieses eigenartige geile Gefühl, was er gehabt hatte, als es losging, vorhin. Über...

Er schlief. Endlich



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