Nur ein Spiegel


Prolog:
Diese Geschichte hat sich tatsächlich abgespielt, und zwar genau so, wie sie beschrieben wird. Man verzeihe daher die Realistik.


Björn sagte mir, dass es länger dauern könnte.
Nun, ich hatte mich bereits darauf eingerichtet. Wir waren nach Trier gefahren, damit er sich dort vorstellen konnte. So etwas ist nicht in 20 Minuten erledigt.
"Setz mich am Marktplatz raus, ich such mir ein Café und werde dort auf dich warten" meinte ich daher zu ihm.

Björn war viel zu aufgeregt, um sich auf eine Diskussion einzulassen. "Ja klar Caro. Ich ruf dich dann an, wenn ich rauskomme und dann hol ich dich auch wieder da ab. Sag mir nur, wo du bist..."

Am Marktplatz in der Nähe seines Vorstellungstermins sprang ich aus dem Auto. Björn fuhr in eine Seitenstraße zum Parken.
Ich schlenderte gemütlich an den Ladenzeilen entlang.

Trier ist eine uralte Stadt. Leider hatten wir nicht genug Zeit für die Porta Nigra oder den Römerwall. So begnügte ich mich mit dem Anblick der gut erhaltenen oder restaurierten Gebäude. Wirklich erfüllend ist das auf Dauer nicht. Bevor ich ein Café am Platz aussuchte, wollte ich mir daher noch etwas zum Lesen besorgen. Es war Montag, also bot sich der Spiegel an, meine definitive Lieblingszeitschrift, die immer montags erscheint.

Der Zeitungsladen war klein. Als ich eintrat, war nur ein Kunde drinnen. Er bezahlte gerade. Die Frau hinter dem Tresen konnte gut und gern die Inhaberin sein: Mitte 40, ein wenig zu elegant gekleidet für eine Kassiererin. Ich registrierte ihre fahrigen Bewegungen, als sie das Geld entgegennahm. Nanu? Es war doch lange noch nicht Ladenschluss? Und warum warf sie mir denn einen verzagten Blick zu? Sollte sie sich nicht über weitere Kundschaft freuen?
Manchmal ist man wie vernagelt.

Ich wandte mich zum Zeitschriftenregal und suchte den Spiegel. Nach wenigen Augenblicken hatte ich ihn gefunden.
Nun verhält es sich mit mir und Zeitschriftenregalen so ungefähr wie mit Durchschnittsfrauen und Schuhgeschäften. Wenn ich einmal angefangen habe zu stöbern, lass ich mir Zeit und gehe ganz bestimmt nicht unter einem ungeplanten Lustkauf wieder raus.

Der andere Kunde hatte längst den Laden verlassen und ich hatte gerade erfreut die Ecke mit den P.M. Magazinen entdeckt, als ich es hinter mir rascheln hörte.

Automatisch spitzte ich die Ohren.
Sie atmete schneller, als zu erwarten war. In diesem kleinen Raum konnte ich jedes noch so leise Geräusch erlauschen, als wäre es über Mikrophon in zwei Innenohrlautsprecher geleitet.
"Ngggsch... mmmmmnnnn... hhhhhhhooohhh... ich mussssss..." wisperte es fast unhörbar.
Auf der Stelle war jede Faser meines Körpers in Hochalarmstellung. Was war DAS denn? Meine Ohren verwandelten sich in kleine Satellitenschüsseln, die sich in meiner Vorstellung weit öffneten und nach hinten richteten.
Das Atmen war weiter unregelmäßig und ich erlauschte ein feines Schleifen, ein Schlurren, welches unzweifelhaft von ihren Schuhsohlen herrührte. Die Frau konnte wohl nicht mehr still stehen.
Es hielt mich nicht länger, ich musste mich einfach zu ihr umdrehen.

Sie stand hinter dem Tresen, stocksteif mit gekreuzten Schenkeln und starrte mich an. Ihr Mund war leicht, ihre Augen weit geöffnet. Sie hatte beide Hände flach auf das Holz gelegt, so dass ich ihre weiß hervortretenden Fingerknöchel sehen konnte. Holla!
Mit heuchlerischer Freundlichkeit meinte ich recht aufgeräumt: "Wenn Sie gern mal kurz zur Toilette möchten: kein Problem. Es dauert hier mit mir sowieso sicher noch eine Weile; ich kann mich noch nicht ganz entscheiden..."
Sie wurde erstaunlich rot und keuchte: "Ich kann Sie hier nicht im Kassenraum allein lassen...!" Schnell wandte ich mich wieder zum Regal. Was tun? In mir kämpften die Empfindungen. Einerseits war es eine Gemeinheit, sie noch länger zu quälen. Andererseits hätte sie ja wohl auch mal rechtzeitig den Laden kurz abschließen können, um zum Klo zu huschen, oder etwa nicht? Vielleicht war sie gar selbst eine verkappte Aurumianerin, die es genoss, lange auszuhalten. Aber was, wenn nicht? Was wäre denn, wenn sie einfach nur total verzweifelt und mir ausgeliefert auf meine Entscheidung hoffte? Ich schwankte zwischen Engelchen und Teufelchen.

Mitten rein in meine Überlegungen hörte ich es hinter mir poltern. Blitzschnell wandte ich mich um. Sie hatte es wohl in der stehenden Stellung nicht mehr ausgehalten und befand sich nun in einer Art Halbhocke - eine fast artistische Leistung mit gekreuzten Schenkeln. Im Bestreben, nicht zu fallen, hatte sie sich mit einer Hand am Rand des Tresens festgeklammert. Dabei war wohl ein Locher oder Ähnliches heruntergefallen. Die andere Hand war bis zum Handgelenk zwischen ihren Beinen verschwunden. Immerhin starrte sie mich nicht mehr an.

Das Gute in mir siegte. Ich fummelte einen 10 Euro Schein raus, packte ihn auf den Tresen, schnappte mir einen Spiegel und ein P.M. Wissen und verließ eilig das Geschäft.

Draußen hatte ich wieder viel Zeit. Mit Bedacht suchte ich mir eine Bank aus, von der ich einen guten Blick durch das Ladenfenster hatte.
Während ich so tat, als läse ich, konnte ich das Innere des Geschäftes scannen.
Die Frau bewegte sich zunächst überhaupt nicht. Sie verharrte in der eigenartig verdreht -verspannten Haltung von vorhin. Schließlich richtete sie sich etwas auf und ging merkwürdig langsam und mit winzigen Schritten zur Ladentür. Sie schloss ab und - blieb einfach stehen. Anstatt, wie von mir erwartet, hektisch nach hinten zu stürzen, um ihre malträtierte Blase zu leeren, blieb sie stehen! Ich starrte wie gestört durch die Glasscheiben, konnte aber nicht erkennen, was sich genau tat, weil die Scheiben gemeinerweise nur den Blick ab Taille aufwärts freigaben.
Endlich drehte sie sich um und ging durch einen hinteren Ausgang aus dem Verkaufsraum.

Nun blieb mir nur noch etwas Kombinationsgabe und meine Phantasie. Ich sah auf meine Uhr. Sie kam nach genau 22 Minuten wieder zurück. Etwas zu lang für einen Klogang - und sie hatte sich komplett umgezogen :-).

Als ich aufstand, um endlich in das avisierte Café zu gehen, merkte ich erst, wie kribbelig ich die ganze Zeit war, wie wuschig und wie gespannt.

Epilog
Eine Frage möchte ich an die geneigte Leserschaft richten:
Ist diese Frau Aurumianerin oder nicht? Ich bin mir nicht einig geworden. Was meint Ihr? Antworten bitte im Forum unter dem Ankündigungs - Thread. Danke :-) .




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